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Frühe Publikationen 1967 bis 1985

Die Monopole und die Festung Wissenschaft – Die Universität als Objekt der Politik, in: Stephan Leibfried (Hg.): Wider die Untertanenfabrik, Köln 1967, S. 67-83.

Stephan Leibfried, Student der Politologie und Soziologie an der FU-Berlin, hat in diesem Band den Versuch unternommen, „kritische Beiträge der letzten Jahre zur Analyse der Situation von Studentenschaft und Hochschule zusammenzufassen“, um damit, wie er erklärt, „eine Einführung in die Probleme der angepaßten Universität und der von den Studenten und anderen Universitätsangehörigen in praktisch-politischer Tätigkeit zu verwirklichenden Hochschule in einer demokratischen Gesellschaft“ zu liefern. „Das Buch soll gleichzeitig eine Materialsammlung für die Studentenpolitik sein.“ Autoren/Autorinnen sind: Jürgen Habermas, Klaus Meschkat, André Gorz, Elmar Altvater, Hannes Heer, Friedhelm Nyssen, Wolfgang Nitsch, Ernst Elitz, Uta Gerhardt, Claus Offe, Ulrich K. Preuß, Reiner Geulen, Hubert Bacia, Susanne Kleemann, Wolfgang Lefèvre, Walter Weller, Peter Müller, Wulf Hopf, Gert von Eynem, Knut Nevermann, Stephan Leibfried und Margherita von Brentano.

 

 

Institutsreform. Modelle studentischer Mitbestimmung, Köln 1969

Der 1946 als Hochschulverband der SPD gegründete „Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS)“, von dem sich die Partei 1960 wegen grundlegender politischer Differenzen getrennt hatte, war die einzige westdeutsche Studentenorganisation, die damals über eine stringente Analyse des Zustands der Universitäten in der Bundesrepublik und über ein ausgearbeitetes Programm zu deren Reform verfügte. Die 1961 von den vier Studierenden Wolfgang Nitsch, Uta Gerhardt, Claus Offe und Ulrich K. Preuß auf 180 Seiten vorgelegte Denkschrift „Hochschule in der Demokratie“ erschien im Januar 1965 in einer überarbeiteten, 500 Seiten starken Fassung im renommierten Luchterhand Verlag unter dem Titel „Hochschule in der Demokratie. Kritische Beiträge zur Erbschaft und Reform der deutschen Universität“. Jürgen Habermas hatte ein Vorwort geschrieben, in dem er die provozierende Schärfe der Kritik für angemessen hielt, „weil sie ihre Maßstäbe dem besseren Geist der Universität selber entlehnt. Die Verfasser identifizieren sich mit dem, was die deutsche Universität einmal zu sein beanspruchte.“

Damit meinte er die Denkschriften, die von Vertretern eines aufgeklärten Rationalismus wie der Theologe Friedrich Schleiermacher und der Sprachforscher Wilhelm von Humboldt zur Gründung der Berliner Universität 1808/09 verfasst worden waren. Darin wurden für das künftige Hochschulwesen in Preußen drei leitende Prinzipien formuliert – „die Einheit der Wissenschaft, die Einheit von Forschung und Lehre und die Einheit von Lehrenden und Lernenden“. Die letzte Forderung wurde in der Studenten-Revolte von 1965 bis 1968 zum Zentrum der Kämpfe gegen die alte „Ordinarien-Universität“, zuerst an der „Freien Universität Berlin“ dann auch an anderen Hochschulen der BRD. Weil die „Lehrenden“, die ihre Karriere z. T. schon in der NS-Zeit gestartet hatten, sich mit allen Mitteln gegen die Aufteilung ihrer Macht zwischen Professoren, Assistenten und Studierenden wehrten, wurde diese Forderung unter der Losung „Für Drittel-Parität!“ zum bevorzugten Kampfplatz und zum Test für die Reformbereitschaft der Professorenschaft. Nur in drei Instituten gelang es 1968/69, einen solchen politischen Konsens herzustellen – beim  Otto-Suhr-Institut (OSI) in Westberlin, beim Institut für Politische Wissenschaften der Uni Bonn und beim Erziehungswissenschaftlichen Seminar der Uni Marburg. Für das Philosophische Seminar der FU Berlin, für die Fachbereiche Psychologie der Uni Münster wie der Universität des Saarlandes Saarbrücken, der Technischen Universitäten (TU) Hannover und Berlin, wie der Technischen Hochschulen (TH) Aachen und Darmstadt lagen nur Entwürfe vor. Eine Einigung über die Drittelparität am Soziologischen Institut der Uni Frankfurt, an dem die mit der Protestbewegung sympathisierenden Professoren Theodor W. Adorno, Ludwig von Friedeburg und Jürgen Habermas lehrten, kam wegen radikaler Forderungen eines studentischen „Streikkomitees“ nicht zustande. Die Broschüre „Institutsreform. Modell studentischer Mitbestimmung“ dokumentiert einen zentralen Ausschnitt der damaligen Argumente und Kämpfe wie die Gefahren eines, wie das Frankfurter Beispiel zeigt, der Reformwilligkeit fortschrittlicher Professoren unangemessenen Linksradikalismus.

 

 

 

Burgfrieden oder Klassenkampf. Zur Politik der sozialdemokratischen Gewerkschaften 1930 – 1933, Neuwied / Berlin 1971

Die 230 Seiten umfassende Studie rekonstruiert die Geschichte des sozialdemokratisch orientierten und 4 Millionen Mitglieder zählenden „Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes“ (ADGB) in der Endphase der Weimarer Republik – es ist die Geschichte einer Kapitulation.

Die 230 Seiten umfassende Studie rekonstruiert die Geschichte des sozialdemokratisch orientierten und 4 Millionen Mitglieder zählenden „Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes“ (ADGB) in der Endphase der Weimarer Republik – es ist die Geschichte einer Kapitulation. Im März 1930 war die letzte von einem sozialdemokratischen Reichskanzler geführte und von einer großen Koalition aus SPD, katholischem Zentrum, liberaler Deutscher Volkspartei, Deutscher Demokratischer Partei getragene Regierung zurückgetreten. Als Hermann Müllers Nachfolger wurde Heinrich Brüning, der Fraktionsvorsitzende des Zentrums, berufen, der sich einen Namen als promovierter Wirtschaftswissenschaftler gemacht hatte. Zum Ausgleich des defizitären Staatshaushalts legte er ein Programm des Abbaus von Löhnen und Sozialausgaben vor, das von der Mehrheit des Parlaments abgelehnt wurde. Als er sein Vorhaben mit einer Notverordnung des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, eines Monarchisten und ehemaligen Helden des 1. Weltkriegs, durchsetzte, hob der Reichstag diese Notverordnung wieder auf. Die Antwort Brünings war die von Hindenburg erwirkte Auflösung des Reichstags und die Ansetzung von Neuwahlen am 14. September. Diese wurden zum Triumph der NSDAP, die 18,3 % der Stimmen erreichte und die bisherige Zahl ihrer Sitze von 12 auf 107 steigern konnte. Die SPD reagierte auf diese politische Katastrophe, indem sie ab jetzt die Politik Brünings ohne Einschränkung tolerierte, auch als dieser 1931 die Zuschüsse für die Arbeitslosenversicherung um ein Drittel kürzte und einen Abbau der Löhne um 10-20 % anordnete. Die Folge war ein immer deutlicher werdender Riss zwischen der SPD und ihren Gewerkschaften. Als „Arzt am Krankenbett des Kapitalismus“ musste sich die SPD vom Vorstand des ADGB beschimpfen lassen. Und das Zentralorgan der Gewerkschaft, „Die Arbeit“ wies auf die Gefahr des „Verblutens“ der Organisation hin, wenn diese sich nicht freimachte von den alten Rezepten. Theodor Geiger, SPD-Mitglied und durch sein Buch „Die sozial Schichtung des deutschen Volkes“ ein Star der Soziologie, formulierte in derselben Zeitschrift einen dramatischen Appell: „Freistellung der marxistischen Weltanschauung, Verzicht auf sie als offizielle und verbindliche Lehre der Bewegung. […] Gebt uns Gedankenfreiheit!“ Eine Arbeitsgruppe des Vorstands hatte in diesem Sinne das Modell der Arbeitsbeschaffung für 1 Million Arbeiter entwickelt, das in Frontstellung zur SPD als zentrales Projekt des ADGB auf einem „Krisenkongress“ am 13. April 1932 verabschiedet wurde. Wenig später trat Brüning zurück. Weiterlesen

 

 

 

Ernst Thälmann – in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Köln 1975

Die ehemalige Hansestadt Hamburg entwickelte sich in den 1870er Jahren zu einem Zentrum der Großindustrie und des Handels – der Werften wie der zugehörigen Fertigungsindustrien, der Reedereien und der Transportgeschäfte. Die Stadt erwies sich daher als Magnet für Hunderttausende ungelernter Arbeiter und junger Frauen aus den benachbarten ländlichen Gebieten Schleswig- Holsteins und Niedersachsens. Durch den von Bismarck erzwungenen Anschluss an das deutsche Zollgebiet wurde Hamburg auch der Umschlagplatz für die Beute aus den deutschen Kolonien in der Südsee, in West-und Südafrika. Und schließlich war Hamburg ein traditionelles Bollwerk der SPD und die Zentrale zahlreicher sozialdemokratisch orientierter Gewerkschaften. Thälmanns Vater Jan war als ehemaliger Knecht aus Holstein 1880 in die Großstadt gegangen, hatte sichdort als Stückgut-Kutscher verdingt und später einen kleinen Lebensmittelladen gemietet. Sein 1886 geborener Sohn Ernst fing wie der Vater als Kutscher an. Er war 1903 in die SPD und 1904 in die Gewerkschaft der 8 000 Transportarbeiter eingetreten, wo er zahlreiche Funktionen in der Sektion der Kutscher wahrnahm und schon früh regelmäßig auch als Redner auftrat. Im Ersten Weltkrieg mit der Artillerie an der Front in Frankreich eingesetzt, erlebte er furchtbare Szenen und den Wahnsinn des Krieges. Das war die Folge des „Burgfriedens“, den die SPD 1914 mit dem Kaiserreich und deren Kriegstreibern geschlossen hatte. Auf Urlaub im Sommer 1917 erfuhr er, dass sich mittlerweile eine radikale Gruppe, die „Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD)“, von der SPD getrennt hatte und wurde deren Mitglied. Als ihn an der Front die Nachrichten vom Aufstand der Matrosen in Kiel Anfang November 1918 erreicht hatten, setzte er sich mit einigen Gleichgesinnten ab und erreichte am 11. November Hamburg, wo ein Arbeiter- und Soldatenrat die Macht übernommen hatte. Den glühenden Hass auf die Generäle Hindenburg und Ludendorff brachte er mit. Ab jetzt wurde aus dem Gewerkschafter der Politiker Thälmann: Neben seiner Zugehörigkeit zur USPD schloss er sich auch den „Revolutionären Obleuten“ an, einer im Weltkrieg gegen die Politik der SPD entstandenen und in den Großbetrieben verankerten Bewegung, die bei den reichsweiten Streiks im Januar 1918 die Beendigung des Krieges und die Einführung der Demokratie verlangt hatte. Deren Forderungen nach „Einführung des Rätesystems, sofortiger Sozialisierung, Entwaffnung der Freikorps und Bewaffnung der Arbeiter, Einigung des Proletariats nötigenfalls über die Köpfe der Führer hinweg“ fielen jetzt auf fruchtbaren Boden. Dank dieser Verankerung in den Hamburger Großbetrieben wurde Thälmann im März 1919 zum Mitglied des Parlaments der Hansestadt und im Juni zum Vorsitzenden der Ortsgruppe der USPD gewählt.

In Berlin war zum Jahreswechsel 1918/19 unter Führung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg die KPD gegründet worden. Daraufhin wurde der wegen seiner USPD-Mitgliedschaft als unsicher geltende Berliner Polizeipräsident Emil Eichhorn abgesetzt. Die Antwort darauf war eine Großdemonstration von hunderttausenden Arbeitern und die Besetzung des Polizeipräsidiums wie der großen Berliner Zeitungsverlage. Bei der darauf folgenden Strafaktion regulärer Truppen, die unter dem Befehl Gustav Noskes, eines SPD-Mitglieds und Angehörigen der provisorischen Regierung standen, wurden am 15. Januar 1919 auch Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet. Es folgten Anfang Februar auch die militärische Niederschlagung der Bremer und im Mai die der Münchner Räterepublik. Die Antwort auf diese Politik, scheibchenweise mit militärischer Einzelaktionen alle politischen Brandherde zu löschen, erfolgte als Staatsstreich, als sich am 13. März 1920 der ostpreußische Landschaftsdirektor Kapp zum Reichskanzler und der General von Lüttwitz zum Oberbefehlshaber ernannten, unterstützt von einem halben Dutzend Kommandeuren der Reichswehr und den beiden deutschnationalen Parteien. Ein von SPD und USPD, KPD und Gewerkschaften beschlossener Generalstreik machte dem Spuk bald ein Ende. Nur die Arbeiter in den mitteldeutschen Industriegebieten und die in der „Roten Ruhrarmee“ Kämpfenden trauten den Frieden nicht und setzen den Widerstand fort. Weiterlesen

 

Dario Fo über Dario Fo, Köln 1980

Der 1980 im Kölner Prometh Verlag erschienene Interview- und Kommentarband beschäftigt sich mit einem der prominentesten Bühnenkünstler Europas, dem italienischen Theatermacher Dario Fo. Dieser hatte 1950 seinen Beruf als Architekt aufgegeben und sich für die Bühne entschieden. In der Schauspielerin Franca Rame, die er 1954 heiratete, fand er seine kongeniale Partnerin. Dario Fos Vorstellung von Theater ist nicht einer fix-und fertigen Theatertheorie oder dem Studium der Theatergeschichte entsprungen, sondern hat sich aus Vorgegebenem entwickelt – seiner Herkunft aus einer antifaschistischen Familie, der Verbindung zu einer lebendigen Volkskultur und den Ausdrucksmöglichkeiten seiner bevorzugten literarischen Sparte – der Komödie. Schließlich aber hat eine bestimmte politische Erfahrung den entscheidenden Anstoß gegeben, sich auf das Experiment eines totalen Publikumstheaters einzulassen, bei dem das Stück und die theatralische Aktion nur ein Medium sind. Sie leisten eine Vorgabe, geben einen szenischen Rahmen, schaffen eine Atmosphäre des Spiels, aber dann wird das Publikum zum Mitspieler. Dario Fo unterhält und belehrt, aber es ist auch auf dieses Publikum angewiesen und von ihm abhängig. Es ist der Lieferant seiner Stoffe, seiner Figuren und der dargestellten Situationen, es fungiert als Mitspieler. Aber es verkörpert auch die politische Bewegung und entscheidet in dieser Eigenschaft, ob das theatralische Produkt nützlich oder unnütz war. Fo ist ohne sein Publikum nichts. Deshalb tritt er auf in Fabriken, in Stadtteilen, überall wo gekämpft wird, deshalb gibt es die Diskussionen im Entstehungsprozess der Stücke und später deren öffentliche Auswertung nach den Aufführungen. Dario Fos Ausstieg aus dem bürgerlichen Theaterbetrieb und der Aufbau eines freien Theaters vollzog sich nicht wie wenn man ein 1. Klasse -Zugabteil mit einem der 2. Klasse vertauscht. Fo hat lange gebraucht, bis er das richtige Verhältnis von politischer Bindung an eine revolutionäre Bewegung und künstlerische Autonomie herausgefunden hatte. Zwei Mal kam es beim Versuch dieses Balanceaktes zum Bruch: jedes Mal lehnte er es ab, eine vorgegebene politische Linie mal eben ins „Theatralische“ zu übersetzen oder bloß ein „Aushängeschild“ für eine Partei, ein „linker Künstler“ zu sein. Fo will mit seinem Theater selbst die soziale und politische Wirklichkeit untersuchen, das Ergebnis auf die Bühne bringen und das Bewusstsein der mitbeteiligten Zuschauer durch diesen Prozess verändern. Das geschieht nicht, weil er sich und sein Kollektiv für eine Ersatzpartei hält, sondern weil er davon überzeugt ist, dass Künstleraugen und Künstlerohren in der Lage sind, aus der Wirklichkeit eigenständige Erkenntnisse zu gewinnen. Nur wenn diese Begegnung ungehindert stattfinden kann, wird auch die Umsetzung in die künstlerische Form adäquat verlaufen. Dario Fo vom Blatt zu spielen, ist tödlich. Improvisationen, Zurufe, Anspielungen und Unterbrechungen sind unerlässlich. Die Theaterleute und das Publikum können das lernen. Die Volksnähe ist schon dadurch garantiert, dass man zum Volk geht, also einen Ortswechsel vornimmt. Man muss dem Volk aufs Maul geschaut haben und auch während des Spiels darauf achten, wie es den Mund spitzt. Die Figuren in Dario Fos Stücken sind keine psychologisch vertieften individuellen Charaktere. Sie sind Repräsentanten eines Kollektivs, einer Klasse oder des Volkes. Die Geschichte des Verrückten im „Zufälliger Tod eines ‚Anarchisten‘“ ist nicht der Fall eines schizoiden Sonderlings, der mit besonderer Findigkeit ein Staatskomplott aufdeckt, sondern er vertritt den wirklichen und gesunden Teil der Gesellschaft gegen ihren paranoiden Gewaltapparat. Oder Giovanni in „Bezahlt wird nicht“ zu Hause und seiner Frau gegenüber, legt er ziemlich bürgerliche Verhaltensweisen an den Tag, und in punkto Eigentum und Gesetze ist er alles andere als radikal. Aber er ist doch ein Prolet: er ist wach, er interessiert sich um alles um ihn herum und ihn betreffende Vorgänge, er lernt in konkreten Situationen, er will die Revolution und setzt sich dafür ein. Beide Seiten müssen vorgeführt werden, als Ausdruck einer bestimmten Klassensituation. Charakterskizzen oder Milieustudien erweisen sich als untauglich, solche kollektiven oder dialektisch verlaufenden Prozesse vorzuführen. Augenzwinkerndes Erzählen und Spielen ohne Requisite eignen sich dazu besser. Dario Fo will den Koloss Staat lächerlich machen, der Zuschauer soll die Angst vor diesem martialisch aufgemachten Superhelden 007 verlieren, er will ihm Mut machen. Deshalb müssen die staatstragenden Figuren grotesk überzeichnet werden, mit Bewegungen, die dem Marionetten-Theater entlehnt sind, in Situationen, die aus Dick-und Doof-Filmen stammen könnten, durch das automatenhafte und rasend schnelle Umkippen von Schein in Sein – der Superbond, der eine Null ist, der Maoist als Polizist. Aber auch deren Antipoden sind Clowns, Clowns mit Sprengstoff: ganz unverdeckt und offen hantieren sie mit ihrer radikalen Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen. Spaß mischen sie mit Ernst, blitzschnell wie Jongleure. Das Publikum muss da mitkommen, besser – dazwischenkommen. Tempowechsel, Tonartwechsel können da helfen – Signale geben, innehalten, kapieren. Ich wage eine Behauptung: achtet man nicht auf solche und ähnliche Fallen, dann kommt man mit Dario Fo nicht weit: seine Stücke verändern sich dann unter der Hand, sie werden unkonkret in Raum und Zeit, sie verlieren ihre Dialektik und werden zu Beschreibungen einer durch Gags und Witze vorübergehend in Bewegung gesetzter statischen Welt. Das Publikum hat in diesen fertigen Kunstprodukten nichts mehr zu suchen, es sitzt außen davor. Die Satire verliert ihren Kern – die Vernunft. Diese geht im Lachen unter. Um es noch schärfer zu sagen – aus Dario Fo wird dann ein linkes Millowitsch-Theater. (Dario Fo starb am 13. Oktober 2016. Er hatte 1997 für sein Lebenswerk den Nobelpreis für Literatur erhalten.)

 

 

Als ich 9 Jahre alt war, kam der Krieg. Ein Lesebuch gegen den Krieg , Reinbek 1983

 

„Rasch eilten wir nach oben. Welch ein Anblick bot sich uns da! Ringsum wurde die Nacht schaurig von brennenden Häusern erhellt, die wie riesige Fackeln gen Himmel brannten.“ –„Es war furchtbar, die Bomben schlugen links und rechts von uns ein.“ – „Ist der Krieg denn nötig? Brauchen denn unzählige Menschen sterben und bluten?“– „Der SS-Mann drohte meinem Vater sogar mit Erschießen, wenn er noch einen Juden bedient.“ –„Aus dem Leben meiner Mutter kann ich nichts erzählen, weil sie kein Erlebnis hat.“ Was wussten Kinder der Hitler-Zeit von Judenverfolgung und Deportation, wie erlebten sie Krieg und die Niederlage, welche Tragödien gab es in ihren Familien im Krieg oder danach? Wie sind sie mit dem Entsetzen fertig geworden und was wurde zur Erinnerung? Die Schüleraufsätze und -zeichnungen waren auf Anordnung des Nürnberger Schulrats Otto Barthel im November 1946 angefertigt worden. Die Aufsätze würden, so formulierte er in dem Begleitschreiben an die Schulen, „wertvolle Einblicke in das Seelenleben der Jugendlichen ergeben“, sie könnten im Wiedererinnern des Krieges dazu beitragen, „die Wiederholung einer solchen Katastrophe möglichst zu verhindern.“ Zunächst sollten alle Schüler der 8. Klasse einen Lebenslauf anfertigen. Dieser bestand aus drei Teilen: einem Personalbogen, einer Liste mit Fragen zur gegenwärtigen Lebenssituation und nach den Gründen für die Katastrophe, ein Aufsatz, der unvergessliche Erlebnisse aus der eigenen Lebensgeschichte festhielt. Die Niederschrift sollte in der Schule erfolgen. Wenig später wurde die Aktion auf die 6. und 7. Klassen der Volksschulen, auf die Berufs- und Fachschulen, sowie auf die Anfangsklassen der Gymnasien ausgedehnt und inhaltlich erweitert: nach Gesprächen mit Eltern und Geschwistern mussten die Schüler einen umfassenderen Lebensbericht vorlegen, dem sich Erinnerungen von Eltern und Großeltern anschließen sollten. Diese zusätzlichen Texte durften zu Hause angefertigt werden. Schließlich lagen 7000 Aufsätze vor, z.T. bebildert, und alle unkorrigiert. Das Material kam, nach dem Tod Bartels im Jahre 1975 ungeordnet ins Stadtarchiv Nürnberg, wo es Hannes Heer 1980 entdeckte. Die Aufsatzaktion scheint nicht ohne Widerstand abgegangen zu sein. Auslöser war wohl der Fragebogen. Vor allem durch die Frage 11: „Was ist nach deiner Meinung an unserem Unglück schuld?“ verknüpft mit der Frage 14, „Wie willst du dazu beitragen, dass unser Volk leistungsfähig und geachtet wird?“ wurde hier eindeutig politische Gewissenserforschung betrieben. In einer Zeit, in der die Besatzungsmächte mit Hilfe von Fragebögen durchleuchten und entnazifizieren wollten, musste jede noch so harmlos klingende Frage nach der Vergangenheit Misstrauen wecken. Also wurden die Kinder angewiesen, vorsichtig zu taktieren: ein Strich, ein Fragezeichen, Antworten wie „das weiß ich nicht“, „befasse mich nicht mit Politik“ oder eindeutiger: „das darf ich nicht beantworten“ waren die Folge. Einmal aufgeschreckt sorgten manche Eltern dafür, dass auch die Aufsätze jede politische Aussage aussparten. In einigen Fällen sieht es so aus, als ob die Lehrer sich an dieser Ausrichtungskampagne beteiligt hätten– kein Wunder, waren doch die meisten von ihnen selbst belastet. Hannes Heer hat die Nürnberger Texte von 1946 mit solchen aus den Jahren 1981/82 verschränkt. Diese neuen Rückblicke entstanden im Zusammenhang mit einem Theater-Stück, das er im Rahmen seiner Tätigkeit als Dramaturg am Deutschen Schauspielhaus verfasst hatte und das am 11. August 1981 im Malersaal des Schauspielhauses seine Uraufführung erlebte. Rechts auf der Bühne saß eine 10köpfige Schulklasse in alten Bänken und las, der Chronologie folgend, aus ihren Schulaufsätzen vor. Auf der linken Seite der Bühne brabbelte an einem Küchentisch sitzend ein alter, zunächst nicht zu identifizierender Mann, der an seinem Hemd einen Knopf annähte, sich dann einen Apfel schälte, später die Küche aufräumte und dabei rassistisch-reaktionäre Ansichten über die Menschen äußerte. Erst mit der Erwähnung des „Frankreich-Feldzugs“ von 1940, bei dem „der Alte“ offensichtlich eine Rolle gespielt hatte, erwiesen sich seine Kommentare als Nazi-Texte. Endgültig klar wurde seine Identität aber erst, als er einen alten Vorführapparat hervorholte, sich einen Film einlegte, der von Marschmusik begleitet, endlos an Hitler in Nürnberg vorbei marschierende HJ-Kolonnen zeigte. Diese reichsweite Aktion war als „Sternmarsch zum Führer“ 1938 angeordnet worden. Der Alte war Hitler, und seine Sätze entstammten dem 1980 erschienenen Protokollband „Adolf Hitler. Monologe im Führer-Hauptquartier 1941-1944“. Die beiden Enden der Erzählung liefen im Jahr 1944/45 zusammen und hinterließen als Bild die Person des Verführers wie der von ihm verführten und missbrauchten Schüler. „Hamburger Schüler von heute“, so berichtete das Hamburger Abendblatt am 13. August 1981 über die Premiere, „lesen die Texte der Schüler von damals: banale Berichte, erschütternde Erlebnisse, kaum verarbeitete Erkenntnisse aus einem Alltag, zu dem Angst und Not ebenso gehören wie die kleinen Freuden. […] Ergänzt werden die Schüleraufsätze durch ‚Monologe im Führerhauptquartier‘, die Traugott Buhre mit der selbstgefälligen Borniertheit eines Biedermannes zum Besten gibt. Und während er den Führer über die Expansion des Deutschen Reiches, über die Minderwertigkeit der jüdischen Rasse oder über die Anstrengung des stundenlangen Stehens beim Abnehmen der Parademärsche räsonieren läßt, werden die sinnlosen Opfer, die unbeschreiblichen Schrecken umso deutlicher, die aus den Aufsätzen der Kinder sprechen.“ Während des Blackouts am Schluss des Stücks waren 10 Stühle auf der Bühne platziert worden. Als das Licht wieder anging, wurden die Zuschauer, die 1941 neun Jahre alt gewesen waren, auf die Bühne gebeten und eingeladen, über ihre Erlebnisse zu erzählen. Wie unter einem Sog folgten jedes Mal acht bis zehn Personen aus dem Publikum dieser Aufforderung. Aus deren Berichten entstand der Schlussteil des Buches – Erzählungen aus der Jetztzeit.

 

 

Geschichte entdecken. Erfahrungen und Projekte der neuen Geschichtsbewegung, Reinbek 1985 (gemeinsam mit Volker Ullrich)

Durch die Geschichtslandschaft der Bundesrepublik ging Anfang der 1980er Jahre ein frischer Wind. In vielen Städten und Regionen begannen Gruppen von historisch Interessierten damit, die Entdeckung von Geschichte in die eigenen Hände zu nehmen. Sie wollten Geschichte von „unten“ erforschen aus der Sicht und wenn möglich unter Beteiligung derer, die sie erlebt und erlitten haben. Ganz bewusst wandten sie sich denen zu, die in der Geschichtsschreibung bisher ein Schattendasein geführt hatten – den „kleinen Leuten“, den vielen Namenlosen, die die Historiker als sprachlose Statisten oder als bloße Objekte übermächtiger gesellschaftlicher Verhältnisse zu sehen gewohnt waren. Sie sollten als Subjekte der Geschichte wieder in ihr Recht eingesetzt werden und das hieß: sie sollten nicht mehr von außen, durch Spezialisten die große Geschichte vorbuchstabiert bekommen, sondern ihre eigene Geschichte entdecken, sie in ihrer Sprache ausdrücken, um sie sich anzueignen. Es sind drei Antriebe und Themen, die diese Bewegung in Gang gesetzt haben: 1. Die Zerstörung gewachsener Landschaften und sozialer Strukturen, 2. das Erbe der Nazizeit, das nicht angenommen und erforscht worden war und 3. neue Ausdrucksmittel, die der Mikrogeschichte angemessen waren und schon existierende Modelle für die „Geschichte von unten“. Der Machtantritt der sozialliberalen Koalitionen unter Willy Brandt und Helmut Schmidt 1969-1982 leitete eine umfassende Modernisierung ein. Die außenpolitische Öffnung erweiterte den politischen und ökonomischen Spielraum vor allem in Richtung Osteuropa. Im Inneren erfolgte eine Mobilisierung von Menschen und Ressourcen u.a. durch soziale Angleichung und Entschärfung diskriminierender Gesetze, bei gleichzeitig verschärfter politischer Kontrolle, durch Industrialisierung bisher unterentwickelter Regionen und Ausbau der Großtechnologie durch Zentralisierung der staatlichen und kommunalen Verwaltung. Dieses Modernisierungsprojekt war spätestens ab Ende der 70er Jahre gescheitert – an der weltweiten ökonomischen Entwicklung und den inneren Widersprüchen. Gleichzeitig waren die katastrophalen Folgen dieser Irrlehre für Mensch und Natur in einem bisher nie dagewesenen Maße vorgeführt worden: Zerstörung bisher unberührter Landschaften durch Verkehrstrassen und Flugplätze, die Gefährdung von Leben durch Atom- und Entsorgungsanlagen, sowie die Vernichtung von Wohnraum und gewachsenen Lebenszusammenhängen in den Städten. Widerstand dagegen entfaltete sich überall und quer durch alle Bevölkerungsschichten. In den Massenprotesten von Whyl und Brokdorf, in Gorleben und an der Startbahn West des Frankfurter Flughafens entwickelte er sich zu einem politischen Selbstverständnis zu einem neuen Lebensgefühl mit enormer Ausstrahlung. Es verdankte sein Entstehen nicht so sehr dem Wissen um die Gefahren der Radioaktivität oder der kriminellen Geschäftspraxis der „Neuen Heimat“, als vielmehr der Erfahrung, dass diese Projekte in den Alltag eingriffen, etwas Gewachsenes zerstörten und daher lebensgefährlich waren. „Betroffenheit“, dieses Wort wurde damals gebräuchlich. Entscheidend war auch der damals stattfindende Zerfall der sogenannten „Studentenbewegung“ von 1965 bis 1968, die in Wirklichkeit ein Aufstand gegen die Nazi-Generation gewesen war. Deren Denkformen und Verhaltensweisen erschienen jetzt als fragwürdig – der angeblich überlegene strategische Blick, die allzu rasche begriffliche Verallgemeinerung, die verdeckte Missachtung der Frauen in unsern Reihen, die usurpierte Selbstsicherheit, historisch im Recht und unfehlbar zu sein. Hatten wir uns nicht damit aus der realen Geschichte der Deutschen zwischen 1933 bis 1945 davongeschlichen und, mit der Verurteilung der Eltern-Generation, „die ganze alte Scheiße“ vom Hals geschafft und für „faschistisch“, „bürgerlich“ und „reaktionär“ erklärt? Waren mit diesem Urteil nicht die faschistischen, bürgerlichen und reaktionären Strukturen in uns selber übersehen oder gar sanktioniert worden? Und hatten wir nicht über unserem Schwadronieren von der Weltrevolution die Spuren und Reste der Nazizeit in unserer Umgebung glattweg übersehen – die Ruinen von Zwangsarbeiterlagern in Städten und Dörfern, die ehemaligen Hauptquartiere der Gestapo, die lokalen Nazigrößen, die straflos geblieben waren und ihre Karrieren fortsetzen durften? Jetzt erst begannen wir, die Spuren von jüdischem Leben in unseren Städten zu rekonstruieren oder die Namen von ins Exil geflüchteten oder deportierten jüdischen Wissenschaftlern zu sammeln. Der Widerstand von Kommunisten und Sozialdemokraten, gläubigen Christen oder ehemaligen Gewerkschaftlern wurde erst jetzt ein Thema. Ein letzter und entscheidender Punkt war, dass die Historiker an den westdeutschen Universitäten durch die Bank ein deutsch-nationales Weltbild vertraten. Liberale oder marxistische Wissenschaftler waren emigriert und nur in Ausnahmen wie das Frankfurter „Institut für Sozialforschung“ nach dem Krieg zurückgekehrt. Erst in den 60er Jahren etablierten Wissenschaftler wie Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka eine fortschrittliche historische Sozialwissenschaft. Diese Neuerer orientierten sich an französischen Vorbildern wie Louis Althusser, Michel Foucault und Pierre Bourdieu oder griffen zurück auf die Werke der englischen Alltags- und Sozialhistoriker Edward P. Thompson, Eric Hobsbawm und Christopher Hill. Ein deutscher Historiker, Lutz Niethammer, war verantwortlich für den Transfer einer in England und den USA üblichen Methode, der „oral history“– der „mündlichen Geschichte“. Nicht mehr die in den Archiven gespeicherten historischen Quellen, sondern ein technisches Instrument, das Mikrofon, wurde zum Medium der Überlieferung. Da die „kleinen Leute“ zu den Haupt- und Staatsaktionen meist nichts beizutragen hatten, wurde ihre individuelle Lebensgeschichte zum Türöffner für das, was die amerikanischen Historiker „Alltagsgeschichte“ nannten –„People‘s History“. Die 47 Beiträge in unserm Band „Geschichte entdecken“ entwerfen ein Themenspektrum, das erstmals die Tauglichkeit dieser Methode für den Geschichtstatort Bundesrepublik nachweist.