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Viermal Leben

Jüdisches Schicksal in Blankenese

Die Ausstellung „Viermal Leben. Jüdisches Schicksal in Blankenese“ hat an vier Bürgern jüdischer Herkunft die zunächst fruchtbare und dann furchtbare Geschichte der jüdischen und nichtjüdischen Deutschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Erinnerung gerufen. Julius Asch, Alma del Banco, Ida Dehmel und Sophie Jansen machten ihrem Leben – bedroht von der Deportation – freiwillig ein Ende. Sie starben nicht namenlos und unerkannt in den Vernichtungsfabriken jenseits der Grenzen, sondern in Blankenese, unter den Augen ihrer Nachbarn. Die Ausstellung hat sie wieder in den Gedächtnisraum der Gemeinde zurückgeholt  – sie gab jedem von ihnen ein Haus, gebaut auf dem Stadtplan des Ortes von 1938 und markierte zugleich mit roten Punkten die Adressen der übrigen 150 „Juden“ aus Blankenese. Ein Gedenkbuch hat deren Leben und Sterben dokumentiert.

Die Ausstellung wurde realisiert von Hannes Heer, Petra Bopp und Peter Schmidt und in Auftrag gegeben vom Verein zur Erforschung der Geschichte der Juden in Blankenese. Sie wurde am 12. April 2004 im Gemeindesaal der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde eröffnet und dort bis zum 18. Mai 2004 präsentiert. Vom 20. Januar bis zum 25. Februar 2005 war sie im Börsensaal der Handelskammer Hamburg zu sehen. Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen.

 

Alle Rechte an diesen Fotos liegen bei Stefan Volk / Hamburg.

 

Zu den Seiten von „Viermal Leben“

 

Zur Einführung

 
Bei Betrachtung einer Landschaft. Viermal Leben. Jüdisches Schicksal in Blankenese

Rede von Hannes Heer zur Eröffnung der Ausstellung am 12. April 2004

Eines der irritierendsten  Bilder, die ich kenne, stammt von Peter Bruegel d.Ä. und trägt den Titel „Landschaft mit Sturz des Ikarus“, gemalt um 1558. Zu sehen ist eine Meeresbucht eingefaßt  von hohen Felsen: zwei Schiffe mit bauchigen Segeln fahren hinaus. Im Vordergrund auf einem Feld  hoch über der See zieht ein Landmann  mit  pferdebespanntem Pflug Furche um Furche. Direkt über der Klippe steht ein Hirte inmitten seiner Herde, tiefer  unten hält ein Angler die Rute ins Meer. Eine Idylle, wenn da nicht der Hinweis im Titel wäre, daß  sich gleichzeitig ein dramatisches Geschehen ereignet – das Ende des Ikarus, also jenes Hochmütigen, der den Rat seines Vaters nicht beherzigte, sich mit den wachsbefestigten Flügeln nicht zu dicht der Sonne zu nähern und als das Wachs schmolz, ins Meer stürzte. Nur das strampelnde Bein als letztes Lebenszeichen  hat Bruegel gemalt. Und man muß lange suchen, bis man es neben dem auslaufenden Segelschiff findet. Es ist die Gleichzeitigkeit von zwei Schicksalen, die mich immer wieder verstört: das ruhige Leben der Landleute, das dem gleichbleibendem Rhythmus ihrer Beschäftigungen  im Laufe der Jahreszeiten folgt und der tödliche Absturz eines Helden, der es den Göttern gleichtun wollte.

Ruth Klüger, eine Jüdin aus Wien, wurde mit 12 Jahren zusammen mit ihrer Mutter nach Theresienstadt deportiert, das verharmlosend Ghetto hieß und dabei ein Durchgangs-KZ in die Vernichtungslager  war. Das junge Mädchen kam nach Auschwitz und schaffte es, mit ihrer Mutter kurz vor der Vergasung zum Arbeitseinsatz in ein Außenlager des KZ Groß-Rosen in Schlesien verschickt zu werden. Über den Transport dorthin hat sie in ihrem Erinnerungsbuch Weiter leben berichtet: „Wieder war es eine Fahrt in einem Güterwaggon, aber diesmal war es geradezu schön. Da waren wir nur ungefähr zwanzig, jedenfalls nicht zu viele. Und kein Gepäck. Nichts mehr, was uns gehörte. Die Wagentür stand offen, so daß man Luft bekommen hat. Vor allem ging es aus Birkenau fort. Ich war ganz glücklich vor Erleichterung. […] Aus dem Vernichtungslager kommend, schaute ich auf die normale Landschaft hinaus, als sei sie unwirklich geworden. Auf dem Hinweg hatte ich sie nicht gesehen, und jetzt lag das Land, von dem die Schlesier noch heute schwärmen, in Postkartenanmut so friedlich da, als hätte die Zeit stillgestanden und ich käme nicht direkt aus Auschwitz. Radfahrer auf stillen Landwegen, zwischen sonnenbeschienenen Feldern. Ich sehnte mich dahinaus. Die Welt hatte sich nicht verändert, Auschwitz war nicht auf  einem fremden Planeten gewesen, sondern eingebettet in das Leben da vor uns, das weitergegangen war wie vorher. Ich grübelte über die Inkongruenz, daß diese Sorglosigkeit im selben Raum existierte wie unser Transport. Unser Zug gehörte doch zu den Lagern, zu der Eigenständigkeit und der Besonderheit der Lagerexistenz, und da draußen war Polen, oder Deutschland, Oberschlesien, wie immer benannt, Heimat für die Menschen, an denen wir vorbeifuhren, Ort, an dem sie sich wohlfühlten. Das von mir erlebte hatte die da draußen nicht einmal berührt. Ich entdeckte das Geheimnis der Gleichzeitigkeit als etwas Unergründliches, nicht ganz Vorstellbares, verwandt mit Unendlichkeit, Ewigkeit.“

Es ist dies das Thema der Ausstellung. Denn diese Gleichzeitigkeit existierte nicht nur in Schlesien, als Häftlinge von einem zum anderen KZ  transportiert wurden, während die Radfahrer von der Arbeit nach Hause fuhren oder einfach zum Zeitvertreib durch den Sommer radelten. Dieses Zugleich gab es auch in Blankenese, wo man seiner Arbeit nachging, im Sand an der Elbe lag, Ehen schloß oder in den Lokalen fröhlich zechte, während die Nachbarn, plötzlich zu Juden gemacht, sich in ihre Wohnungen zurückzogen, ihre Arbeit und dann auch ihren Besitz verloren, ihre Namen mit Zwangszusätzen  verunstalten mußten, zur Flucht ins Ausland getrieben wurden, den Judenstern angeheftet bekamen, schließlich mit wenig Gepäck zur Sammelstelle getrieben wurden, um deportiert und dann ermordet zu werden.

Anders als in Bruegels Landschaft mit Sturz des Ikarus, bei der die Landleute auf dem Feld in keiner schicksalhaften Verbindung zum Tod des Ikaros in der Meeresbucht stehen, gibt es in Klügers Landschaft mit verfolgten, vertriebenen, ermordeten Juden eine Beziehung zwischen denen im Lager oder im Waggon und denen da draußen. Noch einmal Ruth Klüger: „Unser Zug fuhr an einem Ferienlager vorbei. Da war ein Junge, von weither gesehen, der eine Fahne geschwungen hat, Geste der Bejahung der Lichtseite des Systems, an dessen blutverschmierter, kotiger Unterseite man uns entlangschleifte.[…] Für uns beide ist es derselbe Zug, sein Zug von außen gesehen, meiner von innen, und die Landschaft ist für uns beide dieselbe, doch nur für die Netzhaut  dieselbe, dem Gefühl nach sehen wir zwei unvereinbare Landschaften. “  Diejenigen, die sich für die Lichtseite des Systems entschieden hatten, trugen auch Verantwortung dafür, daß andere die blutverschmierte Unterseite erleben mußten. Die mehr als 50% Wähler von Blankenese, die 1932 in freien Wahlen – bei den Reichstagswahlen, den Landtagswahlen, den Reichspräsidentenwahlen – immer wieder Hitler und seine Partei wählten, brachten ihn und sein rassistisches Programm an die Macht. Die Vorstände, die in den Blankeneser Vereinen freiwillig den Arierparagraphen einführten, die Pastoren, die von der  Kanzel dieser Kirche den Nationalsozialismus als Gottesgeschenk und den evangelisch-lutherischen Glauben als Sache deutscher, genauer arischer Christen definierten, halfen mit beim Prolog der Judenverfolgung. Die Lehrer, die an den hiesigen Rassekunde unterrichteten und ihre Schüler beim morgendlichen Fahnenappell auf Volk und Führer einschworen, die anonymen Plakatkleber, die verhindern wollten, daß der Elbstrand  zum Tummelplatz von Judenkindern wurde oder eine blonde Arierin einen Juden heiratete, schufen das Klima, in dem der Judenmord möglich und plausibel wurden.

Es geht in der Ausstellung nicht um diese Täter und deren Verantwortung. Es geht um das Zugleich von Opfern und Tätern an einem Ort. Es geht darum zu zeigen, wie das Leben von Blankeneser Bürger über Jahre und Jahrzehnte friedlich nebeneinander koexistieren konnte – in Nachbarschaft oder Geschäftsbeziehung, als Zugehörigkeit zu einem Verein oder zur Kirchengemeinde, als Schulkameradschaft oder Freundschaft. Wie es dann plötzlich auseinanderlief, als die einen zu Juden gemacht und die andern plötzlich die einzigen Deutschen waren. Das Leben der Deutschen und ihre Taten haben wir unter dem Titel Blankenese/Theresienstadt nacherzählt. Die einmontierten Fotos vom Leben in Blankenese in diesen Jahren zeigen die Lichtseite des Systems. Das Schicksal der verfolgten Juden haben wir am Beispiel von vieren – viermal Leben – für kurze Zeit in die Gegenwart zurückgeholt. Ihnen, den aus der Gemeisnchaft Ausgestoßenen, haben wir in Blankenese wieder Häuser gebaut, errichtet auf dem Grundriß des Ortes in den 30er Jahren. Rote Punkte auf dem Boden machen deutlich, wie viele andere Juden in der Nachbarschaft der Deutschen gelebt haben. Das in der Ausstellung ausliegende Gedenkbuch dokumentiert das Leben dieser Nachbarn im Umriß. Vier Stelen vor der Kirche tragen die Namen der Vier und bezeugen, wie Finger, die aus der Erde gewachsen sind, ihre Existenz. Die blutverschmierte Unterseite, auf der sich die vier Leben nach 1933 vollzogen, dokumentieren wir nicht mit den Greuelfotos, die wir alle kennen, sondern mit den im Ton sachlichen Anordnungen unscheinbarer Behörden, die den sozialen Tod exekutierten und die physische Auslöschung vorbereiteten, anhand von Bittbriefen oder Abschiedsbriefen der Verfolgten, manchmal auch nur mit dem Wenigen, das von Julius Asch, Sophie Jansen, Ida Dehmel oder Alma del Banco übrigblieb – ein Ölbild und ein paar Zeichnungen, ein Militärpaß und eine Visitenkarte, ein paar selbstverfaßte Bücher oder ein persönlich gewidmetes Gedicht.

Wenn die Ausstellung zu etwas anstiften will, dann  ist es dies: in Kenntnis der Unvereinbarkeit der beiden Landschaften und mit der Akzeptanz, daß also ein Rest Unversöhnlichkeit zwischen den Nachkommen der Täter und der Opfer bleiben wird, viele Häuser für unsere ehemaligen und dann ausgespuckten Mitbürger zu bauen, sichtbare, wie in dieser Ausstellung, oder unsichtbare in unseren Herzen.