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Der Minsker Prozess

 

Deutsches Schauspielhaus Hamburg 1995

Buch und Regie: Hannes Heer und Jossi Wieler
Dramaturgie: Tilmann Raabke
Musik: Wolfgang Siuda
Mit dem Ensemble des Deutschen Schauspielhauses Hamburg
Premiere: 6. Mai 1995


Der Minsker Prozess war eines von neun spektakulären Verfahren, die 1946 in den sowjetischen Städten, die besonders unter der Besatzung gelitten hatten, gegen deutsche Kriegsgefangene durchgeführt wurden. Die angeklagten Angehörigen der Wehrmacht, der Polizei, der SS und des Sicherheitsdienstes (SD) mussten sich für Großverbrechen an kriegsgefangenen Rotarmisten, Juden und anderen Zivilisten in der besetzten Sowjetunion in der Zeit von 1941 bis 1944 rechtfertigen. Die Verbrechen, über die gegen insgesamt 93 Deutsche verhandelt wurde, überstiegen an Monströsität noch das, was in den Nürnberger Prozessen öffentlich wurde: Hier ging es nicht um „Hauptkriegsverbrecher“ und „Schreibtischtäter“, sondern um den Alltag des Vernichtungskrieges und den Holocaust auf offenem Feld.

In Minsk, der Hauptstadt Weißrusslands, das ein Drittel seiner Bevölkerung verloren hatte, wurde im Januar 1946 im „Haus der Offiziere“ gegen 18 Angeklagte verhandelt – 11 Angehörige der Wehrmacht, darunter zwei Generäle, 4 Angehörige der Polizei, darunter ein Generalmajor, und 3 Angehörige von Waffen-SS und SD. Wie alle anderen Prozesse fand auch der in Minsk öffentlich statt, die Beschuldigten hatten Anwälte, internationale Pressevertreter waren zugelassen. Das Protokoll der Verhandlung des Minsker Prozesses wurde publiziert. 14 Angeklagte wurden zum Tode durch Erhängen, 4 zu langjähriger Zwangsarbeit verurteilt. Die Todesurteile wurden am 30. Januar 1946 auf der Pferderennbahn von Minsk in Anwesenheit von mehr als 100 000 Menschen vollstreckt.

 

Rezensionen

„Eine Geschichte ohne Anfang und ohne Ende: So präsentierte sich ,Der Minsker Prozeß‘ den Zuschauern im Hamburger Schauspielhaus. Der Regisseur Jossi Wieler und der Historiker Hannes Heer hatten diese Rekonstruktion des ersten Kriegsverbrecherprozesses in der Sowjetunion nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Szene gesetzt. Es wurde eine detailbesessene, höchste Konzentration erfordernde Erinnerungsarbeit.

Kein Anfang, kein Ende: Auf der als riesige Archivhalle gebauten Bühne bewegen sich die Schauspieler bereits, lesen Akten, tauschen Informationen aus, als die Zuschauer den Saal betreten. Es folgen knapp zwei Stunden lang Textpassagen aus Ortsregistern, Dienstgradverzeichnissen, Bekanntmachungen des Oberkommandos der Wehrmacht, Wetterberichten, Zeugenaussagen, Hamburger Theaterspielplänen von 1943, Verhörprotokollen, Feldpostbriefen und den Prozeßaufzeichnungen.

Am Schluß ist der Text wieder am Anfang angelangt. Die Zuschauerverlassen langsam, nicht wenige von ihnen irritiert, das Theater, die Schauspieler machen weiter, bis der Saal ganz leer ist. Kein Beifall, kein Vorhang: Die Geschichte geht immer weiter, eine unendliche Geschichte, wie auch die Erinnerung an sie nie aufhört.“
– Hamburger Abendblatt

 

„Der Weg in die finstere Vergangenheit führte die Besucher des Hamburger Schauspielhauses am späten Sonnabendabend durch den Hinterhof. Hintergründe waren es auch, die sich unter dem Titel ,Der Minsker Prozess´ auftun sollten. […] Niedergebrannte Dörfer voll sterbender Menschen. – Vor den Flammen Flüchtende mit Maschinengewehrsalven niedergemäht. – Kriegsgefangene erfrieren beim Abtransport in offenen Güterwagen. – 9000 Juden vor offenen Gräbern erschossen: Die Greueltaten deutscher Soldaten, zitiert aus dem erschütternden Aktenmaterial des ,Minsker Prozesses´ vom 15. bis 26. Januar 1946 ließen sich stundenlang weiter aufzählen.“
– Die Welt

 

„Keine Kulisse, Hinterbühne und Schnürboden einsehbar, nur ein paar Requisiten auf der spielstätte, die nach Archiv oder Amt aussahen – das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg zeigte am Samstagabend eine ,szenische Installation´ über den Kriegsverbrecherprozeß von Minsk. Regie führten Jossi Wieler und der Historiker Hannes Heer, die einmalige Aufführung war eine Co-Produktion des Schauspielhauses mit dem Hamburger Institut für Sozialforschung; auch Schauspieler vom Thalia-Theater nahmen daran teil.
An diesem Abend forderten die dokumentarischen Materialien verzicht auf das Theatralische. Die Schauspieler bewegten sich als ernsthafte, wenn auch müde Archivarbeiter über die Szene, schleppten Akten und Faszikel, blätterten, verglichen, ordneten. Immer war einer von ihnen für die Zuschauer hörbar, darüber entstand eine eindringliche Collage aus Stimmen und Texten, es waren die Ergebnisse von Verhören und Befragungen, Zeugenaussagen und Plädoyers – die sorgsam protokollierte und für die Nachwelt festgehaltene Wirklichkeit des deutschen Vernichtungskrieges in der Sowjetunion.“
-Frankfurter Rundschau

 

Münchner Kammerspiele 2002

Buch und Regie: Hannes Heer
Dramaturgie: Tilmann Raabke
Musik: Wolfgang Siuda
Darsteller: Anna Böger, Julia Kaiser, Klaus Brechling, Annette Paulmann,Hildegard Schmahl, Daphne Wagner, René Dumont, Hans Kremer, Stefan Merki, Michael Neuenschwander und Wolfgang Pregler

Der Historiker und Publizist Hannes Heer, der Leiter der Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“, hat aus dem Material der Akten und Aufzeichnungen dieses Prozesses einen Textkörper zusammengestellt, der Einblick in die Aufarbeitung der Vergangenheit gibt. Die Idee einer Rekonstruktion des Gewesenen wird dabei sichtbar, welche die Vernehmungsprotokolle, Lebensläufe und Zeugenaussagen nicht zu einer großen Erzählung oder zu einem großen Komplex von Erzählungen zusammenschließt, sondern mit den eher spröden Formen ihrer Dokumentarisierung konfrontiert, mit den Reihen und Serien der Listen und Aufzählungen. Gerade durch diese Reibung entsteht eine Atmosphäre des Textes, in der die Inszenierung der Wirklichkeit deutlich wird und die somit ins Theater gehört: Schauspielerinnen und Schauspieler der Münchner Kammerspiele begeben sich in die Archive des Krieges.